Rührselige Geschichte

Es gibt Geschenke, die der Schenkende schenkt - und gleich den (hohen) Preis nebenbei hervorhebt, mehrfach die neue Uhr am Handgelenk der Liebsten oder die neuen Klamotten an den Figuren der Töchter als besonders geschmackvoll betont. Diese Geschenke werden geschenkt, um den Schenkenden hervorzuheben, zu betonen, zu rühmen. Nennen wir sie einmal leicht narzisstisch angehaucht. Andererseits hier diese Geschichte aus unseren Tagen: Ein Mann ist Pfleger in einer Privatklinik, verheiratet, drei Kinder. Seine Frau verdient nochmal bis zu 590 Mark hinzu durch Schreibarbeiten bei einem Hochschulprofessor. Fröhliche Weihnachten ließe sich wünschen - der Mann hat immer noch Arbeit, immer noch seine erste Frau und drei gesunde Kinder. Da gab es jedoch monatelange Krankheit in diesem Jahr bei der Frau, was viel Energie kostete und den Wegfall von monatlich 590 Mark. Da gab es eine Betriebsversammlung, auf der die Klinikleitung aufgrund der schlechten Gesamtlage mit dem Personal übereinkommen musste, das Weihnachtsgeld auf 50 Prozent vom Netto zu kürzen. Das alles zusammen mit der Erhöhung der Mieten in der Sozialwohnung, den regelmäßige Fahrtkosten zu den Eltern mit aufgefressener Kleinrente im Altersheim zu zwei verschiedenen Städten und eine nicht mehr aufschiebbare Zahnbehandlung bei ihm, dem Pfleger, nennen wir ihn Martin, mit hoher Zuzahlung wegen niedrigster Prämie. Martin geht also den schweren Gang: Er will bei Mary ein zweites Mal in seinem Leben um Geld bitten. Es ist sonst kein Geld für Geschenke für die Kinder da, geschweige denn für seine Frau. Mary ist die Oberin seiner Klinik und damit seine Dienstvorgesetzte. Aber auch immer noch freundschaftlich verbunden mit ihm. Er hat Mary schon einmal ganz früher angepumpt um 1000 Mark für sein erstes Auto, das er sich während seiner Pfleger-Ausbildung kaufte, die er zusammen mit Mary auf derselben Berufsfachschule absolviert hatte. Martin bittet Mary um 800 Mark, rückzuzahlen im Sommer 1997, wo Martin im Urlaub bei seinem Schwager arbeiten würde... Mary zögert diesmal ein wenig, teilt Martin knapp mit, daß sie für die Ausbildung der beiden Neffen und Nichten aufkomme und im Januar eine Eigentumswohnung kaufen wolle. Morgen wolle sie ihm Bescheid geben, sie müsse erste rechnen. Mit roten Ohren geht Martin am nächsten Tag zur Klinik - nicht nur wegen des Frostes draußen. Aber Mary hat ihm schon einen Zettel im Umschlag in sein Fach gelegt. „Mehr ging leider nicht!" stand auf einem Zettel und 500 Mark lagen darin. Hier könnte die Geschichte schon aufhören. Aber sie wird jetzt erst wirklich weihnachtlich: Mary, die alte Freundin und Vorgesetzte, hatte ihm das Geld an einem Freitag in den Umschlag gesteckt. Am Samstag erhielt sie dann vom ahnungsvollen Postboten die Nachricht, daß sie über 8000,- DM im Spiel 77 gewonnen habe. Dem Postboten schenkte Mary einen 50 Mark-Schein und Martin schrieb sie Sonntag zwei Worte: Gute Zeit! Und legte einen Tausendmarkschein bei. Weil Mary Martins rote Ohren ihr gegenüber, seine Mischung aus Stolz und Pein bemerkt hatte, schrieb sie die beiden Worte in Druckbuchstaben, unterschrieb nicht und schrieb auch Martins Namen nicht auf den Umschlag. Mary ging seit Jahren zum ersten Mal heimlich zu jemandem: Den Briefkasten von Martin und seiner Familie. Das war Montagmittag, als Martins Frau den Briefkasten öffnete. Und es war Montagnachmittag, als Martin freudestrahlend bei Mary im Büro der Klinik saß und erleichtert sagte, es gebe noch Wunder. Er könne ihr jetzt schon die ganze Summe wiedergeben. Da habe doch tatsächlich ein völlig verrücktes Wunder oder ein wunderbarer Verrückter Umschlag mit Bargeld in seinen Kasten getan. Ohne Adresse. Ohne Absender. In diesem Sinne von Mary‘s Zettelworten: Gute Zeit mit den großen und kleinen Überraschungen innerhalb der Wogen von Geschenken und Schenkenden!

03. Dezember 1996